Mein Traum: CARE-Mitarbeiterin Sabine Wilke
Am 12. Januar 2010 erschütterte ein schweres Erdbeben die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince. Die Hilfsorganisation CARE leistet weiterhin vor Ort Hilfe, da die Auswirkungen der Katastrophe auch über ein Jahr danach – noch sehr deutlich zu sehen und zu spüren sind. Viele Menschen haben immer noch kein Dach über dem Kopf und leben in Notunterkünften, die wenigsten haben Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen. Sabine Wilke (CARE Deutschland-Luxemburg) ist zur Zeit in Haiti am Wiederaufbau beteiligt. Den schlafKULTUR Lesern erzählt sie ihren Traum von Haiti.
Mein Traum
Ich wache früh auf, durch das Fenster weht ein kühler Wind. Es wird sicher wieder ein heißer Tag in der Karibik und ich genieße diese vorläufig letzte frische Brise. Wie immer fahren wir um 06.45 Uhr Richtung Büro. Die Straßen von Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, sind voll, deshalb nehmen wir Abkürzungen. Enge, steinige Sandpisten, die sich durch die Stadtviertel winden. Aber kaum lassen wir das Haus hinter uns, reibe ich mir die Augen. Irgendetwas ist anders. Die Straßen sind asphaltiert, der Verkehr geordnet. Wir überholen solide Busse, in denen jeder Passagier einen Sitzplatz hat. Ich sehe Schulkinder mit Tornistern, voller Bücher und Hefte, die auf den Bus warten. Er bringt sie in zehn Minuten zur öffentlichen Schule, für die ihre Eltern kein horrendes Schulgeld zahlen müssen. Dort erwarten sie ausgebildete und engagierte Lehrer, die vom Staat ordentlich bezahlt werden. Ich sehe Frauen und Männer auf dem Weg zur Arbeit. Mit dem Gehalt können sie ihre Familie ernähren, ihre Wohnungen bezahlen und gesund bleiben. Wir fahren an einem Krankenhaus vorbei, das Gebäude ist erdbebensicher und modern ausgestattet. Keine Warteschlangen, ausreichend Personal, die nötigen Medikamente. Um die Ecke liegt der Markt. Er ist bunt und laut, aber die Stände sind sauber, das Gemüse frisch aus der Region. Die Menschen können es zu Hause mit Leitungswasser abwaschen und die Gefahr von Cholera ist Vergangenheit.
Piep, Piep, Piep. Der Wecker? Ich öffne die Augen, es ist sechs Uhr, durchs Fenster weht ein kühler Wind. Was mich auf dem Weg ins Büro erwartet: Trümmer und Schuttberge am Wegesrand, die auch ein Jahr nach dem Erdbeben nur mühsam weggeräumt werden können. Kinder, die stundenlang über die staubigen Pisten zur Schule gehen, mit leerem Magen, ohne Bücher und Stifte. Überall in der Stadt Zelte, Plastikplanen, notdürftig zusammengebaute Unterkünfte, die dem Regen und der Hitze kaum standhalten. Überfüllte, instabile Busse, in denen sich die Menschen dicht gedrängt festhalten, aus Angst, herauszufallen. Menschen am Wegesrand, zwischen Pfützen voller Müll und Abwasser, die verzweifelt ihre fünf Tomaten oder zwei Paar Turnschuhe anpreisen. Wenn sie heute nichts verkaufen, muss die Familie hungern.
Ich schließe die Augen und weigere mich, aus meinem Traum aufzuwachen. Ich weigere mich, dieses kleine, geschundene Land als hoffnungslosen Fall abzutun. Haiti hat so viel zu bieten. Tausende Kilometer traumhafte Strände, ein angenehmes Klima das ganze Jahr über, eine faszinierende Geschichte und eine lebhafte Kulturszene. Ob Vodou-Rituale, Kompas-Musik oder kreolische Küche: Haiti mag „das ärmste Land in der westlichen Hemisphäre“ sein, aber es ist reich an Schönheit und Potential. Das ist kein Traum, sondern eine mögliche Wirklichkeit. Und die müssen wir alle gemeinsam gestalten - die Bevölkerung Haitis, die Regierung und Hilfsorganisationen wie CARE. Also: aufwachen und anpacken!
Weitere Informationen finden Sie unter: http://www.care.de
Die Hilfsorganisation CARE wurde 1945 in den USA gegründet, um Hunger und Verzweiflung in Europa mit mehr als 100 Millionen CARE-Paketen zu lindern. Heute greift CARE auf die Erfahrung und die Ressourcen einer modernen, internationalen Hilfsorganisation zurück. Unabhängig von politischer Anschauung, religiösem Bekenntnis oder ethnischer Herkunft setzt CARE sich weltweit für Not leidende, arme und benachteiligte Bevölkerungsgruppen ein. Seit seiner Gründung im Jahr 1980 wird CARE Deutschland-Luxemburg von Menschen unterstützt, die eine Vision teilen: eine Welt der Hoffnung, Toleranz und sozialen Gerechtigkeit, in der die Armut besiegt ist und die Menschen in Würde, Frieden und Sicherheit leben. Private Spender tragen entscheidend zum Erfolg dieser Arbeit bei. Aber auch nationale Regierungen, die Europäische Kommission, UN-Organisationen, Unternehmen und Stiftungen bilden eine wichtige Basis von Förderern, ohne die die Hilfsprogramme nicht möglich wären.
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Titelfoto: ©CARE/Philippe