Bettlektüre des Monats

Bettlektüre
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Es gab Zeiten, da glich eine Reise in die Schweiz noch einem sehr exotischen Abenteuer. Zu jener Zeit gab es noch keine Bergbahnen und keine vernetzte Infrastruktur. Doch Thomas Cook sollte dieses Erlebnis trotzdem für jedermann möglich machen, denn Frauen durften damals noch nicht mal Mitglied im Alpine Club in London werden! Miss Jemima Morrell war eine der ersten Pauschaltouristen in den Alpen und gründete mit ihren Reisegefährten kurzerhand einfach den Junior United Alpine Club. Erfreulicherweise hat sie ihren Trip in lebendiger Sprache für die Nachwelt niedergeschrieben. Humorvoll und wortgewandt beschreibt sie die einzelnen Stationen der Reise: „Zu unserer Linken krauste der Pilatus seine nackte Braue in den Himmel, schien aber entgegen seiner Gewohnheit guter Dinge und weder vom Gewissen geplagt noch in der Laune zu sein, uns gegenüber seinen zweifelhaften Ruf unter Beweis zu stellen, der ihm von den meisten Wanderern und Verfassern von Reiseführern zugeschrieben wird.“ Ihre Beschreibungen vermitteln aber auch ein Bild davon, wie sie übernachtet haben und dass die Reise wahrlich nichts für Langschläfer gewesen ist: „Wir fanden unsere kahlen Schlafzimmer mit den Eichenfußboden kühl und bequem, auch wenn die Postkutsche uns um vier Uhr morgens aus dem Schlaf riss und der Lärm der allgegenwärtigen Steinmetze, die am liebsten am frühen Morgen arbeiten, uns wach hielt.“ „Um vier Uhr morgens wurden wir vom Läuten der Kuhglocken geweckt, als eine Herde durch das Dorf zog.“ „Wir spazierten zu unserem Chalet zurück und saßen dort, bis der Gedanke an den nächsten frühen Morgen uns in unsere lustigen Zimmer trieb. Es war drollig, wie in einer Teekiste zu schlafen. Holz gab den Zenith, Holz den Nadir, und im Norden, Süden, Osten und Westen waren wir umgeben von Holz.“ Nach der Lektüre bekommt man definitiv Lust, sich auf Miss Jemimas Spuren zu begeben und ihre Reise durch die Alpen in der heutigen Zeit zu wiederholen. Das hat übrigens auch der Reisejournalist Andreas Lesti gemacht, der das Vorwort der aktuellen Ausgabe verfasst hat…

Darum geht’s: Eine viktorianische Reisegruppe: Im Sommer 1863 starten in London vier junge Männer und vier junge Frauen zur ersten geführten Tour durch die Schweizer Alpen – begleitet von keinem Geringeren als Thomas Cook. Mit Dampfschiff und Eisenbahn gelangen die ungleichen Mitglieder des »Junior United Alpine Club« in die westlichen Alpen, wo sie mit Maultieren, Postkutschen und zu Fuß von Chamonix übers Wallis bis ins Berner Oberland vordringen. Die 31-jährige Miss Jemima Morrell hat darüber mit spitzer Feder und feinstem englischen Humor ein Tagebuch geschrieben. Jahrzehnte verschollen, liegt der vergnügliche Bericht nun auf Deutsch vor. Jemima Ann Morrell, Jahrgang 1832, wurde als älteste Tochter eines Bankiers in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder William und anderen Bekannten gründete sie als Erwachsene den United Alpine Junior Club. Der Club unternahm kurz danach, im Jahr 1863, die erste Pauschalreise in die Schweizer Alpen. Miss Jemima heiratete, bekam einen Sohn und wurde 77 Jahre alt. Ihr Reisebericht wurde erst Jahrzehnte nach ihrem Tod entdeckt.

Kategorien: Gute Nacht